Charlie Chaplin war 53, als er Oona O’Neill begegnete, sie erst 17. Die Welt nannte es Wahnsinn, einen Skandal, eine Torheit. Doch es wurde die Liebe seines Lebens. Er, der die Welt zum Lachen brachte, hatte selbst oft einsam gelitten. Drei Ehen waren zerbrochen, der Applaus verhallte, die Schlagzeilen fraßen sich in seine Tage.
Dann kam Oona. Sie hörte nicht nur zu, sie verstand. Sie blieb. Gegen alle Stimmen heirateten sie 1943. Als ihm Amerika die Tür wies, folgte sie ihm in die Verbannung. In der Schweiz fanden sie, was kein Ruhm geben konnte: Frieden, Freude, Familie. Acht Kinder füllten ihr Haus mit Lachen, diesmal nicht vom Filmset, sondern aus dem Leben.
Als Chaplin 1977 starb, suchte Oona keinen neuen Anfang. Sie hatte bereits alles gelebt, was Liebe sein kann. Denn manchmal genügt ein einziges Ja – und es bleibt. Wahre Liebe fragt nicht nach dem richtigen Moment. Sie bleibt, wenn alles andere vergeht.
Charlie Chaplin (1889–1977) war der Sohn armer Künstler in London und stieg zum größten Stummfilmstar der Welt auf. Mit Filmen wie „Der große Diktator“ und „Modern Times“ wurde er zum Symbol für Humor mit Tiefgang, kannte jedoch auch Skandale und Einsamkeit.
Oona O’Neill (1925–1991), Tochter des Literaturnobelpreisträgers Eugene O’Neill, wuchs in Künstlerkreisen auf, war schön, klug und jung. Sie wurde Chaplins Halt, als die Welt ihm den Rücken kehrte, und blieb bis zu seinem Tod an seiner Seite. Sie selbst wollte nie im Rampenlicht stehen – sondern einfach lieben.
Seit 1995 lese ich täglich Magnificat – Mein Stundenbuch. Das ist ein auf Dünndruckpapier gedrucktes Monatsheft mit rund 300 Seiten, das für jeden Tag des Monats die Legende des / der Tagesheiligen, das Morgengebet, die Texte der Eucharistiefeier und das Abendgebet beinhaltet. Der anschließende redaktionelle Teil beinhaltet Themen des Monats.
Gleich am Beginn wird das Titelbild ausführlich von Domkapitular Msgr. Dr. Heinz Detlef Stäps aus Rottenburg beschrieben. Er hat mir ausdrücklich gestattet, seinen Text hier zu verwenden. Diese Texte sind für mich eine Meditation für den jeweiligen Monat. Das heurige Juli-Bild befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek.
Erschaffung der Welt, Bible Moralisée, Paris, um 1225, Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Cod. Vindobonensis 1179, fol. 1v
Aus Gott geboren
Jede Bible Moralisée des 13. Jahrhunderts zeigt den Schöpfer der Welt sozusagen als Titelbild (Frontispiz) vor dem eigentlichen Text mit den Medaillons. Bevor die einzelnen Teile der Bibel interpretiert werden, soll als Voraussetzung deutlich gemacht werden, dass die Welt aus Gottes Händen kommt, dass sie durch seinen Willen erschaffen wurde und er ihr „Architekt“ und Planer ist.
Wort, durch den die Welt geschaffen wurde.
Insofern können wir hier durchaus ein Bild Christi erkennen, der in seiner Beteiligung am Schöpfungswerk gezeigt wird.
Der Schöpfungsakt
Christus hält eine Kugel oder Scheibe auf dem Schoß. Diese ist mit verschiedenen Farben und Formen als die nach dem biblischen Bericht entstehende Welt gezeigt. In der Mitte sind gelb-grüne vegetabile Formen zu sehen, die das entstehende Leben auf der Erde meinen. Sie sind noch umgeben vom Schwarz der Finsternis über der Urflut (vgl. Gen 1, 1). Auch diese Urflut ist, von einem weißen Saum getrennt, von außen zu sehen. Nach dem biblischen Weltbild ist es aber auch das „Wasser oberhalb des Gewölbes“ (= Himmel) (Gen 1, 7), wie man sich den Regen erklärte. Außen umgibt die gesamte Welt ein grüner Rand, an dem Christus sie hält und trägt.
Das Instrument, das Christus in der Hand hält, ist ein Zirkel. Mit dem Zirkel übertragen früher Architekten auf den Plänen die Maßeinheiten und legten Messpunkte fest. Christus wird hier also als Architekt der Welt gezeigt. Er plant und beugt. Er plant und bemisst die Schöpfung, er legt die Mitte der Welt fest und bestimmt die Abstände der Schöpfung.
Wer ist hier dargestellt?
Die bildbeherrschende Person ist hier im Sitzen dargestellt. Andere Fassungen der Bible Moralisée zeigen sie stehend. Hier sitzt sie auf einem Faldistor (liturgischer Klappstuhl) und ist mit rot-blauen Gewändern bekleidet, die ornamentale Verzierungen zeigen. Die Füße sind nackt und der nach rechts geneigte Kopf wird von einem goldenen Nimbus mit Kreuz umgeben. Damit ist klar, dass es sich hier um eine der drei göttlichen Personen handeln muss: Gott Vater, Sohn oder Heiliger Geist. Ein Blick in das Gesicht des Mannes, vom welligen dunklen Bart und von ebensolchen, langen Haaren gerahmt, legt uns die Überzeugung nahe, dass es sich hier um Christus, die zweite göttliche Person, handeln muss. Doch so einfach ist es nicht.
Die Bibel spricht in beiden Schöpfungsberichten (Gen 1, 1 – 2, 3 und Gen 2, 4–25) von „Elohim“ (Gott, eigentlich Plural) bzw. sie benutzt ab Gen 2, 4 auch den Gottesnamen „JHWH“. Damit ist klar, dass hier der Vater gemeint ist, er ist der Schöpfer, aus seinem Willen entsteht alles Geschaffene.
Da der Vater aber nicht konkret darstellbar ist, wurde er in der mittelalterlichen Kunst manchmal mit den Zügen Christi gezeigt. Bei Darstellungen der Marienkrönung sehen wir dann zum Beispiel zweimal Christus mit der Taube des Geistes dazwischen (vgl. St. Georg in Gelbersdorf, Altar im nördlichen Seitenschiff, 15. Jh.). Insofern kann eine Darstellung Christi durchaus den Vater und damit den Schöpfergott meinen. Biblische Grundlage dafür ist Kol 1, 15, wo Christus das Ebenbild des unsichtbaren Gottes genannt wird.
Hier ist es aber anders: Als Christen haben wir einen eigenen Blick auf die Schöpfungsgeschichte. Wir sehen hier nicht nur Gottvater tätig, sondern auch der Sohn und der Geist haben Anteil am Schöpfungswerk. „Gottes Geist schwebte über dem Wasser“ heißt es in Gen 1, 2 und wir nennen den Heiligen Geist im Glaubensbekenntnis denjenigen, der lebendig macht.
Noch deutlicher ist die Beteiligung der zweiten göttlichen Person am Schöpfungswerk. Im schon erwähnten Kolosserhymnus heißt es über Christus: „Denn in ihm wurde alles erschaffen […] alles ist durch ihn und auf ihn erschaffen.“ (Kol 1, 16) Dies ist theologisch ja auch ganz einleuchtend: Christus ist das Wort, der Lógos (vgl. Joh 1, 1 f.) und „alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist“ (Joh 1, 3). Und der biblische Schöpfergott muss im Gegensatz zu den Göttern des Vorderen Orients nicht kämpfen, um die Welt zu erschaffen, sondern er spricht (vgl. Gen 1, 3.6 etc.). Für die christliche Theologie ist es deshalb Christus, das
Im Gegensatz zu anderen Darstellungen ist er hier sitzend gezeigt, mit der Schöpfung im Schoß. Natürlich ist das kein Zufall. Der Maler hat hier ausdrücken wollen, dass die Schöpfung nicht nur durch Gottes Hände gestaltet wurde, sondern dass sie aus Gott geboren ist. Die Welt ist keine Kopfgeburt und kein Hand-Werk, sie stammt aus der Mitte der Liebe Gottes. Sie steht in Beziehung zu ihrem Schöpfer, aber sie ist auch ein Werk der Beziehung Gottes in sich, der Liebe zwischen Vater, Sohn und Geist. Gerade deshalb ist die Beteiligung aller drei göttlichen Personen so wichtig.
Mandorla und Engel
Die Christusfigur wird von einem mehrfachen Rahmen in der Form eines ovalen Vierpasses umgeben. Ohne Zweifel ist hiermit die gotische Form der Mandorla gemeint, eine Art Ganzkörpernimbus, mit dem Christus herausgehoben wird und der seine göttliche Herrlichkeit unterstreicht. Dementsprechend ist sowohl innen als auch außen Blattgold aufgebracht, das mit Ornamenten ziseliert wurde.
Auffällig ist, dass in allen vier Ecken Engel gemalt wurden, die in seltsamen Verrenkungen mit ihren Flügeln, Füßen und Gewandzipfeln die Eckfelder möglichst gut ausfüllen. Alle halten mit beiden Händen die Mandorla und schauen zu Christus hinauf bzw. herunter.
Wir haben hier keine Maiestas Domini vor uns, dazu müssten die vier Engel durch die vier (apokalyptischen) Wesen (vgl. Ez 1, 5–10) ersetzt werden und als Thronassistenten einer Theophanie (Gotteserscheinung) fungieren. Hier bezeugen die Engel die himmlische Herrlichkeit des Herrn, der die Welt ins Sein ruft und sich somit ein irdisches Gegenüber schafft. Sie ist sein Werk, von ihm geplant und geschaffen, sie entspringt seinem Willen und seinem Können. Sie ist aus ihm geboren und somit der ideale Lebensraum für die Menschen als Ebenbild Gottes (vgl. Gen 1, 27). Sie werden das eigentliche Gegenüber Gottes sein, Produkt und Ziel seiner Liebe, und zu ihrer Erlösung wird Christus in dieser Welt als Mensch geboren werden.
Heinz Detlef Stäps
aus der Mitte Gottes kommt alles was ist
er ist die Mitte der Welt
wer sich finden will muss Gott
suchen
in der Mitte der eigenen Seele
Heinz Detlef Stäps
Quelle: Magnificat. Das Stundenbuch (Monatsausgabe Juli 2025), Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer, Online-Ausgabe, S. 10–16.
Gibt es Gott? Diese Frage stellt sich früher oder später jeder Mensch. Dr. Johannes Hartl, Theologe und Philosoph, bringt es in einem Gespräch auf den Punkt:
„Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“
Hartl erklärt: Die Ordnung und Logik des Universums, unsere Fähigkeit zu denken und zu fragen, deuten darauf hin, dass es einen Urheber dieser Welt gibt. Das Universum sei kein reines Zufallsprodukt, sondern trage in seiner Gesetzmäßigkeit Spuren einer höheren Vernunft.
Warum das Leiden uns zweifeln lässt
Das stärkste Argument gegen Gott ist für Hartl das Leid in der Welt. Doch er sagt auch: Ohne Gott wird das Leiden nicht kleiner, sondern wir verlieren eine Quelle von Trost und Sinn.
Wir sehen nur einen kleinen Ausschnitt unseres Lebens. Vielleicht hat Gott Gründe, warum er eine Welt mit der Möglichkeit von Leid erschafft – weil er uns Freiheit schenkt und Leben ermöglicht, das nicht nur von außen gesteuert ist.
Religiöse Erfahrung – Ein Hinweis?
Hartl verweist auf ein einfaches Bild:
„Wir hätten keinen Durst, wenn es kein Wasser gäbe.“
So könnte auch unser Sehnen nach Gott ein Hinweis darauf sein, dass es ihn gibt. Religiöse Erfahrungen sind Teil der Menschheitsgeschichte und geben vielen Menschen Halt.
Glaube als Fundament
Glaube ist kein mathematischer Beweis, sondern eine Entscheidung:
Lebe ich so, als wäre alles nur Zufall?
Oder lebe ich in dem Vertrauen, dass mich ein liebender Gott gewollt hat?
Der Glaube, so Hartl, sei „die grundlegendste Einstellung, die unser Leben trägt.“
Was bedeutet das für Trauernde?
In Momenten des Abschieds kann diese Frage besonders drängen. Das Gespräch mit Dr. Hartl lädt dazu ein, Trost zu finden in der Möglichkeit, dass Gott existiert, uns kennt und trägt – gerade im Leid und in unserer Suche nach Sinn.
„Götter haben viele Gesichter, aber wahre Göttlichkeit hat kein Gesicht“, heißt es in einer taoistischen Meditation. Der Satz will trösten, will Vielfalt ehren – doch er lässt uns am Ende im Ungefähren zurück.
Jesus Christus sagt etwas anderes.
„Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ (Joh 14,9)
Gott bleibt nicht im Nebel. Er tritt hervor – mit einem Gesicht, mit Augen, die weinen können, mit Händen, die berühren. Mit einem Herzen, das liebt bis ans Kreuz.
Die Weltreligionen kennen viele Bilder von Gott. Die Bibel aber kennt nicht nur Bilder, sondern Begegnung. Nicht nur ein Ahnen, sondern ein Antworten.
Jesus nennt Gott nicht „das Absolute“ oder „das Formlose“. Er nennt ihn Vater – und lädt auch uns ein, ihn so zu nennen:
„Abba!“ – Papa. (Mk 14,36)
Wer trauert, sucht keine Philosophie. Wer leidet, will kein Prinzip.
Er oder sie sehnt sich nach Nähe. Nach einem Blick, einer Stimme, einer Umarmung.
„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6)
Jesus zeigt uns den Weg – und er ist der Weg und die Liebe.
Nicht anonym. Nicht verschwommen. Sondern ganz Mensch. Ganz Gott.
Wenn man das Grab nicht kennt, in dem er Ruh erworben
von Franz Grillparzer
Wenn man das Grab nicht kennt, in dem er Ruh erworben, wen, Freunde, ängstet das? Ist er doch nicht gestorben! Er lebt in aller Herzen, aller Sinn und schreitet jetzt durch unsre Reihen hin.
Deshalb dem Lebenden, der sich am Dasein freute, ihm sei kein leblos Totenopfer heute. Hebt auf das Glas, das Mut und Frohsinn gibt, und sprecht, es leerend, wie ers selbst geliebt:
»Dem großen Meister in dem Reich der Töne, der nie zu wenig tat und nie zu viel, der stets erreicht, nie überschritt sein Ziel, das mit ihm eins und einig war: das Schöne!«
Ehrengrab Ludwig van Beethoven, Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 32A, Grab 29). Die hohe weiße Obelisk‑Stele mit goldener Lyra markiert die letzte Ruhestätte eines der größten Komponisten der Musikgeschichte.
Dieses ergreifende Gedicht stammt aus der Feder von Franz Grillparzer (1791–1872). Es war ursprünglich Teil seiner Rede zur Beisetzung Ludwig van Beethovens (1770–1827), gehalten am 29. März 1827 auf dem damaligen Währinger Ortsfriedhof in Wien.
Ehrengrab Franz Grillparzer, Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 32A, Grab 14). Der bedeutende Dichter ruht unweit von Beethoven, Schubert & Co. – mitten im Komponistenfeld des Zentralfriedhofs.
Grillparzer, selbst ein Meister des Wortes, würdigte mit diesen Zeilen einen Meister der Töne. Er sprach nicht von Trauer, sondern von bleibender Gegenwart, nicht von Tod, sondern von Schönheit, Kunst und Ewigkeit.
Beethoven wurde später auf den Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 32A) umgebettet – in der Nähe seines musikalischen Bruders Franz Schubert. Auch Grillparzer fand dort seine letzte Ruhe – nur wenige Schritte entfernt.
Die Inspiration zu diesem Posting verdanke ich einem Gespräch mit Barbara M. Fischer, die mir das Gedicht mit feinem Gespür für Sprache und Gefühle in Erinnerung rief. Danke dafür.
Die beiden Fotos der Ehrengräber hat Hedwig Abraham gemacht, die mich 2024 mit Ihrem Fachwissen beeindruckt und durch den Zentralfriedhof geführt hat. Ich halte sie für eine hochkompetente und besonders engagierte Führerin durch Wien.
Auch knapp sieben Jahre nach seinem Erscheinen ist dieser Artikel eine Fundgrube für Vieles, das sich in Wien – und nicht nur hier – an der Bestattungskultur verändert hat.
Als christlicher Trauerredner spüre ich allerdings auch eine große Sehnsucht der Angehörigen nach bleibendem Trost. Es ist noch gar nicht lange her, dass kirchliche und weltliche „Verabschieder“ kurz vor dem letzten Weg die Angehörigen um eine nette Geschichte aus dem Leben des lieben verstorbenen Menschen gebeten haben und dann aus dem Zusammenhang gerissen, diese Geschichte in der Aufbahrungshalle in ihre Standardreden eingebaut haben.
Heute ist es bei guten Trauerredner üblich, die Angehörigen wenigstens ein paar Tage vor der Einsegnung zu besuchen und in einem einfühlsamen Gespräch zu spüren, was den lieben verstorbenen Menschen ausgemacht hat. Dann gelingt es auch, bei der Trauerrede die Zeit anzuhalten und ein letztes Mal den Toten in Gedanken lebendig zu erleben. Dieser großartige Mensch ist uns vorausgegangen und richtet schon eine Wohnung für uns her. Niemand weiß, wo diese neue Heimat sein wird und niemand weiß, wann und wie wir uns dort wiedersehen werden. Bis dahin können wir uns beim Friedensgruß nach dem Vater Unser umarmen und dürfen dankbar sein für die Freunde, die uns begleiten und für Gott, der uns liebt.
Und am Wiener Zentralfriedhof hören wir manchmal leise den Chor unserer Lieben singen: „Wir sind nicht tot. Wir sind bei Gott. Auf Wieder-Sehen!“
Tag 172. Wenn das wahre Licht erscheint, wendet sich der ganze Planet ihm zu. Die Sommersonnenwende ist die Zeit des stärksten Lichts. Sie ist ein enorm kraftvoller Tag. Der ganze Planet wendet sich dem Strahlen der Sonne zu.
Diese mächtige Kulmination ist weder statisch noch dauerhaft. Die Sonnenwende als Zeit der Kulmination ist tatsächlich ein kaum wahrnehmbarer Punkt. Die Sonne scheint stillzustehen. Ihre tägliche Bewegung scheint beinahe anzuhalten. Gestern war sie noch auf dem Weg zu diesem Punkt; morgen wird sie eine neue Phase ihres Zyklus beginnen.
Jene, die Tao folgen, feiern diesen Tag, um sich an die Zyklen der Existenz zu erinnern. Sie erinnern sich daran, dass alle Zyklen ein Links und ein Rechts haben, ein Oben und ein Unten, einen Höhepunkt und einen Tiefpunkt.
Heute überwiegt der Tag die Nacht und trotzdem wird sich die Nacht langsam durchsetzen. Alles Leben verläuft in Zyklen. Alles Leben ist Harmonie. Deshalb sollten wir feiern, aber nicht hochmütig sein. Denn immer, wenn man einen großen Erfolg feiert, nähert sich auch die Antithese.
Genauso gilt, nicht in Trauer zu verfallen, wenn man im Unglück ist. Denn wenn man trauert, nähert sich die Antithese ebenso. Jene, die wissen, wie man den Höhepunkt eines jeden Zyklus erreicht und sein Strahlen bewahrt, sind die Weisesten von allen.
Inspiration: Deng, Ming-Dao. 365 Tao: Meditationen für jeden Tag des Jahres
„Nicht der Ort ist das, was letztlich zählt; was man spürt, ist das, was bleibt.“
(Taoistische Meditation, Tag 170 – Schrein)
Wenn wir an Fronleichnam das Allerheiligste in goldener Monstranz durch die Straßen tragen, dann ehren wir nicht einfach einen Schrein. Wir ehren eine Gegenwart, die uns innerlich berührt.
Wie im Taoismus der Schrein nicht bloß ein exotischer Ort ist, sondern ein Spiegel des Herzens, so ist auch Fronleichnam kein Spektakel, sondern eine Einladung:
Gott wohnt unter uns. In uns.
Wurzel Jesse Monstranz, Dom Museum Wien
Ob du den Schrein im Tao oder das Allerheiligste in der katholischen Liturgie suchst – beide feiern das Heilige als Gegenwart. Was zählt, ist nicht, wohin du gehst, sondern wie du gehst: Mit offenem Herzen.
Alltagssorgen fallen auf den kristallenen Boden. Buchstaben aus Feuer zeigen sich in der Luft. Und erscheinen wieder in deinem Herzen.
Deng, Ming-Dao. 365 Tao: Meditationen für jeden Tag des Jahres
Dann geschieht Wandlung. In der Trauer wie im Glauben gibt es heilige Orte. Nicht, weil sie geweiht sind – sondern weil sie uns verwandeln.