Schlagwort: Gnade

  • Vom Glas zur Klarheit

    Warum ich seit 2022 keinen Alkohol mehr trinke
    Eine ehrliche späte Entschuldigung an Menschen, die ich liebe
    von Harald R. Preyer – ehemaliger Alkoholiker

    1) Selbstkundgabe

    Ich kann mich nicht erinnern, seit meinem 16. Lebensjahr eine Woche ohne Alkohol gelebt zu haben. Ich habe selten selbst gedacht, dass ich betrunken bin. Die Polizei, meine Familie und wirklich gute Freunde waren anderer Meinung. Mehr als 40 Jahre habe ich meiner Familie, meinen Kollegen im eigenen Unternehmen und mir selbst eine schlechte Kopie meiner Persönlichkeit zugemutet.

    Eine Notoperation (überraschender Darmkrebs, dessen Anzeichen ich ignoriert habe) in Kiew am 8. Dezember 2019 hat noch immer nicht gereicht, endlich aufzuhören. Erst ein epileptischer Anfall im Sommer 2022 und in Folge ein einwöchiger Krankenhausaufenthalt haben mich bereit für die Botschaft gemacht, die mir gute Freunde seit Jahren gesendet haben:
    „Hör’ auf, Harald! Es ist schade um Dich!“

    Mein langjähriger Freund, der Neurologe Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Lalouschek, sagte zu mir:
    „Harald! Du saufst Dir noch Dein Hirn weg!“

    Und meine geliebte Ehefrau Yuliya meinte:
    „Harald, als ich Dich da auf der Bahre der Rettung liegen gesehen habe, wurde mir klar: Ich als zierliche Frau kann Dir mit Deinen über 100 Kilo nicht mehr helfen, wenn so etwas noch einmal passiert. Ich liebe Dich – und ich bin ratlos. Bitte hilf Dir und mir!“

    Seit 17. Oktober 2022 trinke ich keinen Alkohol mehr.
    Es ist kein Kreuz, sondern Befreiung.

    Die Gesellschaft, meine Familie und vor allem Yuliya haben mir viel geschenkt – Geschenke, die ich erst seit drei Jahren wirklich als solche erkenne. Ich habe viel wieder gut zu machen.
    Heute bin ich dankbar für mein Leben, lebe bescheiden, froh, glücklich und frei von jedem Druck.

    Es ist eine weit verbreitete und falsche Behauptung, dass ein Alkoholiker immer ein Alkoholiker bleiben wird. Richtig ist aber, dass ich sofort wieder zum Alkoholiker werden würde, wenn ich ein Glas Alkohol trinken würde.

    Wenn Du diesen Weg auch gehen willst, ruf mich an.
    Ich kann Dir vielleicht helfen, endlich wirklich aufzuhören.
    Jedenfalls werde ich es versuchen – so gut ich kann.
    Nicht für Geld, sondern als Dank für das Geschenk der völligen Alkohol-Abstinenz, das ich selbst seit drei Jahren jeden Tag erlebe.


    2) Was die Forschung heute sagt

    Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat 2024 ihre Empfehlung grundlegend geändert:
    Es gibt keine risikofreie Menge Alkohol. Schon ein einziges Glas erhöht das Risiko für Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Leberschäden. Frühere Studien, die kleinen Mengen Wein oder Bier einen gesundheitlichen Nutzen zugeschrieben haben, gelten heute als wissenschaftlich widerlegt.

    Das Robert Koch-Institut (RKI) hat in einer großen Befragung gezeigt:
    Fast ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland trinkt Alkohol in gesundheitlich riskanten Mengen. Männer sind deutlich stärker betroffen als Frauen. Auffällig ist auch, dass gerade höher gebildete Menschen häufiger trinken – oft, weil Alkohol dort als Teil des „guten Lebens“ gilt.

    Die Einteilung in Stufen verdeutlicht:

    • Kein Risiko: nur Abstinenz
    • Geringes Risiko: bis 2 Standardgetränke pro Woche
    • Moderates Risiko: 3–6 Standardgetränke pro Woche
    • Hohes Risiko: mehr als 6

    Ein Standardgetränk entspricht 330 ml Bier, 125 ml Wein oder 40 ml Schnaps. Entscheidend ist: Das Risiko steigt mit jedem weiteren Drink.


    3) Kritik und Konsequenzen

    Suchtforscher warnen davor, dass die Stufen Sicherheit vortäuschen. Manche Menschen bleiben auf einer Stufe stehen und fühlen sich „im grünen Bereich“, obwohl jede Menge Alkohol Schaden anrichten kann. Darum betonen Fachleute:
    Wirklich sicher ist nur Verzicht.

    Auch politisch ist das Thema brisant. Alkohol ist in Österreich und Deutschland leicht und billig verfügbar. Ein Nachtverkaufsverbot in Baden-Württemberg führte nachweislich zu weniger Gewalttaten und Krankenhausfällen – wurde aber wieder abgeschafft. Experten fordern strengere Regeln und höhere Steuern, ähnlich wie bei Tabak.


    4) Mein Weg in die Freiheit

    Für mich war das Aufhören kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess. Ich habe im Abstand von 12 Jahren dreimal versucht, mich vom Alkohol zu verabschieden. In den Jahren 2013 und 2021, weil ich meinen Lieben damit eine Freude machen wollte. Den Abend meines 50. Geburtstags am 3. Mai 2013 habe ich im Anton Proksch Institut im Hof mit einer Zigarette, einer heißen Schokolade aus dem Automaten und mir selbst gefeiert. Zurecht verlassen von meiner damaligen Ehefrau und bemitleidet von meinen drei Kindern. Ich habe damals bereits am ersten Wochenende noch während der Therapie wieder lächelnd ein Glas Weißwein getrunken und bin dann nüchtern wieder am Sonntag Abend im Institut erschienen. Das hat fünf Wochen ganz gut funktioniert und ich habe mir eingeredet, dass ich alles im Griff habe.

    Erst im Oktober 2022 war es dann erstmals mein eigener Wunsch wirklich mit Alkohol aufzuhören. Ich habe den Schalter im Kopf umgelegt und gebetet:

    Vater! Jetzt will und muss ich wirklich mit diesem Unsinn aufhören. Verzeih mir, dass ich meinen Körper – Deinen Tempel – so lange beleidigt habe. Bitte vergib mir und hilf mir, dass ich es auch für den Rest meines Lebens schaffe, trocken zu bleiben.

    Diese vier Schritte haben mir wirklich gut getan:

    Wahrheit zulassen. Nicht mehr beschönigen, nicht mehr verdrängen.

    Vertraute Menschen einbeziehen. Zwei, drei Freunde, die offen sagen dürfen: „Pass auf dich auf.“

    Rituale verändern. Statt den Gläsern Wein am Abend: aufgeschnittene frische Äpfel, Wasser, Tee, Spaziergang, Gebet, Liebe.

    Spiritualität stärken. Die Texte der Bibel wirklich bewusst lesen und darüber nachdenken, was sie für mich heute bedeuten.

    In den Texten des Magnificat (ein monatlich erscheinendes Stundenbuch für Laien, das ich seit 30 Jahren abonniert habe), im stillen Gebet, in der Eucharistie habe ich eine neue Nüchternheit entdeckt, die Freude schenkt.

    Die Bibel drückt es klar aus:
    „Alles ist erlaubt, aber nicht alles nützt“ (1 Kor 6,12).
    „Berauscht euch nicht mit Wein; das macht zügellos, sondern lasst euch vom Geist erfüllen“ (Eph 5,18).
    Und Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10).

    Für mich heißt das: Nüchternheit ist nicht Mangel, sondern Freiheit zur Liebe.


    5) Einladung

    Vielleicht erkennst du dich wieder in meinen Zeilen. Vielleicht spürst du, dass Alkohol dir mehr nimmt als er gibt. Wenn das so ist, dann ruf mich an. Ich urteile nicht, ich rechne nicht ab. Ich höre zu, begleite und teile, was mir selbst geholfen hat.

    Nicht als Geschäft, sondern als Dank.
    Denn seit drei Jahren darf ich jeden Tag die Erfahrung machen:
    Die Abstinenz ist kein Verlust, sondern ein Geschenk.


    6) Nachklang

    Ich hatte mir den 17. Oktober 2025 als Tag markiert, um diesen Artikel zu schreiben.

    Ein berührendes Begräbnis, das ich heute gemeinsam mit meinem Freund P. Johannes Paul Abrahamowicz, Priester und Mönch im Stift Göttweig, am Wiener Zentralfriedhof gestalten durfte, hat dazu geführt, dass ich diesen Text schon heute veröffentliche.

    P. Johannes Paul hat mir im Auto am Parkplatz vor dem Zentralfriedhof seine neueste Komposition vorgespielt. Ein Lied, das er selbst mit erkälteter Stimme gestern aufgenommen hat:

    „Ist mein Leben vorherbestimmt? “ (op. 253)

    Als ich diesen Artikel fast fertig geschrieben hatte, kam der wöchentliche Newsletter der ZEIT. Und dort habe ich einen wirklich gut recherchierte Bericht in ZEIT Online vom 30. September 2025 gefunden.

    Ich habe mit Hilfe von KI die rund 400 Kommentare der ZEIT-Leserinnen und -Leser analysiert und betroffen festgestellt:
    Je höher die Bildung, umso höher der Alkoholkonsum.
    Und: Rund ein Drittel aller Alkoholiker leugnet ihre Sucht, ein Drittel redet sie schön – und ein Drittel gibt sie zu und will aufhören, Alkohol zu trinken.

    Ich selbst habe 40 Jahre lang meine Sucht geleugnet und erst im Anton Proksch Institut in Kalksburg erkannt, wer ein Alkoholiker ist:

    „Jemand, der Alkohol wegen seiner Wirkung trinkt – und nicht, weil er gut schmeckt.“

    Heute weiß ich: Wahrheit befreit. Und Klarheit heilt. Beides ist Gnade.


    Den aktuellen Artikel in der Zeit inklusive einer einfachen Selbsteinschätzung und überzeugender Grafiken habe ich hier mit einem Geschenk-Link geteilt. Es kann sein, dass Du Dich kostenlos einmal anmelden musst, wenn Du ihn lesen willst. Der Verlag wird dann vermutlich versuchen, Dich als Abonnent zu gewinnen. Das habe ich auch bei anderen Produkten aus dem ZEIT Verlag erlebt. Es wird aber sofort respektiert, wenn Du einmal auf „Abmelden“ klickst.

    https://www.zeit.de/gesundheit/2025-09/alkoholkonsum-rechner-vergleich-gesundheitsrisiko-studie?freebie=f8523b16

  • Ein Begräbnis als Fest der Vergebung

    … und ein kleines Wunder einen Monat später.

    Manchmal sind Familiengeschichten von so viel Schmerz überschattet, dass selbst die Erinnerung schwer erträglich bleibt. Vor allem, wenn es um sexuellen Missbrauch innerhalb der eigenen Familie geht. Und doch: im Angesicht des Todes, mitten in der Trauer, kann ein Raum entstehen, in dem Worte der Vergebung heilsam wirken.

    Das Begräbnis

    Vor einem Monat habe ich am Wiener Zentralfriedhof die Beisetzung eines erfolgreichen Immobilienmaklers geleitet. Hinter dem äußeren Glanz dieses Lebens verbarg sich viel Dunkelheit. Seine Tochter erzählte mir von dem, was die Öffentlichkeit nie erfahren sollte: dass er mehrfach versucht hatte, sie und später auch seine Enkelin zu missbrauchen. Aus Angst um den „guten Ruf“ wurde all das in der Familie totgeschwiegen.

    Das Schweigen aber hatte seinen Preis: Tochter und Enkelin litten jahrzehntelang – seit 25 Jahren waren sie in psychiatrischer Behandlung. Nach außen schien die Familie intakt, doch innen war das Vertrauen zerbrochen. Die Tochter wollte späte Rache. Ich sollte alle Verfehlungen des Verstorbenen in der Trauerrede aussprechen. Gleichsam eine Anklage einem Toten gegenüber.

    Die Ehefrau hatte das Ganze für sich längst gelöst. Sie war seit dem versuchten Missbrauch die heimliche Geliebte ihres Yoga-Lehrers und mit ihm auf der ganzen Welt unterwegs.


    Das Kyrie – eine unerwartete Wendung

    Wie spricht man in einer Trauerrede über einen Menschen, der so sehr verletzt hat? Gar nicht! Weil das der falsche Ort und die falsche Zeit sind. Darum habe ich in der Feier gleich nach der Eröffnung dem Kyrie – dem Herr erbarme Dich Raum gegeben.

    Es steht uns frei, das Erbarmen Gottes auf den Verstorbenen herab zu bitten.
    Herr, erbarme Dich!

    Wir haben hier die Gelegenheit, für ihn und für uns um Vergebung zu bitten.
    Christus, erbarme Dich!

    Niemand von uns ist ohne Schuld. Doch indem wir Schuld vergeben, machen wir uns Christus ähnlich.
    Herr, erbarme Dich!

    Beim ersten Satz habe ich der Tochter fest und liebevoll in die Augen geschaut – und innerlich hörte ich eine Stimme: „Lass gut sein. Ich mach’ das schon…“
    Was ich dann wirklich gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Aber ich habe gehört, dass alle laut „Herr, erbarme Dich! Christus erbarme Dich. Herr, erbarme Dich!“ , wiederholt haben – und ich habe gesehen, wie sich Gesichter veränderten: überrascht, dann sanft, liebevoll. Plötzlich war im Raum ein Wohlwollen und eine Herzlichkeit, wie ich sie sonst nur in der Messe beim Friedensgruß erlebe.

    Nach der Beerdigung haben mir Mutter und Tochter lange die Hand gedrückt und leise gesagt: „Danke!“

    Seit diesem Tag weiß ich: Ich kann mich vollkommen auf den Herrn verlassen. Das nimmt mir nicht die Aufgabe, mich gut vorzubereiten – aber ich darf im entscheidenden Moment ganz darauf vertrauen, dass Er wirkt.


    Stimmen der Gemeinschaft

    Nach dem Kyrie sprachen Mitarbeiter über gemeinsame Erlebnisse, kurz, ehrlich, mit Respekt. Auch ein Studienfreund erzählte eine Episode aus der Jugend. Kleine, helle Erinnerungen – nicht um das Dunkel zu übertönen, sondern um das Ganze zu tragen.


    Das Wunder danach

    Heute – einen Monat später – schrieb mir die Tochter eine Nachricht:

    „Danke, lieber Harald. Mona und ich waren heute zum letzten Mal beim Psychiater. Wir sind seit dem Begräbnis geheilt. Wir konnten endlich Opa loslassen und segnen.“

    In diesen Worten liegt das ganze Wunder: Was über Jahrzehnte unerträglich war, konnte in einem Moment des gemeinsamen Gebets verwandelt werden.


    Erklärung zum Bild

    Das Bild, das diesen Artikel begleitet, zeigt eine Farbharmonie:

    • innen Rot und Orange – Schmerz, Wunde, Wahrheit
    • in der Mitte Gelb und Türkis – Entscheidung, Loslassen
    • außen Blau und Violett – Gnade, Weisheit, Frieden
    • im Zentrum ein weißgoldenes Leuchten – Symbol für die Liebe Gottes, die alles umfängt

    So wird das Bild selbst zum Gebet: aus Dunkel wird Licht, aus Schmerz wird Frieden.


    Schlussgedanke

    Vergebung bedeutet nicht, das Geschehene kleinzureden. Vergebung bedeutet, den Schmerz beim Namen zu nennen – und ihn Gott hinzulegen. So kann Heilung geschehen.

    Dieses Begräbnis wurde zu einem Fest der Vergebung. Nicht, weil der Verstorbene ein gerechter Mensch gewesen wäre, sondern weil Gnade stärker ist als Schuld.


    Anhang

    Sieben Schritte zur Vergebung

    Nr.StufeSchlüsselHaltung
    1Anerkennen –
    „Ja, das ist geschehen.“
    Realität zulassenIch stelle mich dem Schmerz.
    2Fühlen –
    „Es hat wehgetan.“
    Emotionen zulassenIch fühle, ohne mich zu verlieren.
    3Verstehen –
    „Das hat mit mir zu tun.“
    Innere KlärungIch erkenne Muster und Zusammenhänge.
    4Entscheiden –
    „Ich will vergeben.“
    Freier Akt des WillensIch löse mich von der Bindung ans Unrecht.
    5Loslassen –
    „Ich lasse los, was mich blockiert,“
    Befreiung durch VerzichtIch übergebe das Urteil an Gott.
    6Lernen –
    „Ich nehme die Erfahrung an.“
    Reifung durch ErkenntnisAus der Wunde wird Weisheit.
    7Frieden –
    „Ich bin frei.“
    Segen statt BitterkeitIch wünsche Heil – auch dem anderen.
  • DRAUSSEN ODER DRINNEN?

    Gottes Barmherzigkeit ist größer als unser Versagen.

    Im dritten Jahrhundert stand die junge Kirche vor einer schmerzhaften Frage:
    Soll man Christen, die in Zeiten der Verfolgung aus Angst ihren Glauben verleugnet hatten, wieder aufnehmen?

    Papst Kornelius (200 – 253) sagte Ja.

    Er vertraute auf Gottes unendliche Gnade und setzte sich dafür ein, dass gefallene Brüder und Schwestern nach Reue und Buße wieder Teil der Gemeinschaft werden durften. Sein Gegenspieler Novatian meinte Nein – er wollte eine Kirche der Starken und Reinen. Doch Kornelius setzte sich durch. Zusammen mit dem Bischof Cyprian von Karthago (200 – 258) verteidigte er die Haltung: Die Kirche ist kein exklusiver Club der Perfekten, sondern eine Heimat auch für die Gebrochenen.

    Und heute?

    Die Antwort der Kirche ist dieselbe geblieben. Wer gesündigt hat, darf heimkehren. Der Weg zurück führt über Reue, über das ehrliche Eingeständnis der eigenen Schuld – und über das Sakrament der Versöhnung. In jedem Beichtstuhl liegt dieselbe Verheißung wie damals:
    Gottes Barmherzigkeit ist größer als unser Versagen.

    Papst Franziskus sagte dazu: „Die Kirche ist kein Museum für Heilige, sondern ein Feldlazarett für Verwundete.“

    Ein Gedanke zum Mitnehmen

    Manchmal fühlen wir uns, als hätten wir Gott enttäuscht oder uns selbst verloren. Dann hilft es, an Kornelius zu denken: Es gibt keinen Weg, der uns endgültig von Gott trennt. Wer umkehrt, darf sicher sein, dass die Tür offensteht.

    So bleibt die Kirche, trotz aller Schwächen ihrer Glieder, ein Haus der Barmherzigkeit. Und wir dürfen darin wohnen – nicht weil wir vollkommen wären, sondern weil wir geliebt sind.

    „Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war. Ich sage euch: Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.“
    (Lukas 15,6–7)


    Yuliya Preyer mit einem Lamm in Betlehem, 3. März 2020


    Heiliger Kornelius und heiliger Cyprian – 16. September

  • Gelassenheitsgebet

    Gott, gib uns die Gnade, mit Gelassenheit hinzunehmen,
    was nicht geändert werden kann,

    den Mut, zu ändern, was geändert werden soll,

    und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

    Reinhold Niebuhr (1892–1971)


    Englisches Original (Reinhold Niebuhr, 1943):

    God, give us grace to accept with serenity the things that cannot be changed,

    Courage to change the things which should be changed,

    and the Wisdom to distinguish the one from the other.

    Autor:

    Reinhold Niebuhr (1892–1971), US-amerikanischer protestantischer Theologe.

    Erstmals verwendet in einem Gottesdienst in Heath, Massachusetts (1943).

    Quellen:

    • Elisabeth Sifton: The Serenity Prayer. Faith and Politics in Times of Peace and War. Norton, New York 2003.
    • Fred R. Shapiro: Who Wrote the Serenity Prayer?, Yale Alumni Magazine, Juli/August 2008.
    • de.wikipedia.org/wiki/Gelassenheitsgebet
  • Die zweite Geige

    Von der Bedeutung der Demut

    Predigt am 22. SONNTAG IM JAHRESKREIS von
    Militärerzdekan Dr. Harald Tripp im Wiener Stephansdom

    Sir 3,17-18.20.28; Hebr 12,18-19.22-24a; Lk 14,1.7-14

    Von dem berühmten Komponisten und Orchesterdirigenten Leonardo Bernstein gibt es eine Interessante Aussage. Die Letzte Frage in einem Interview schien sehr naiv zu sein: „Welches Instrument wird im Symphonieorchester am wenigsten gerne gespielt?“ Verschwitzt lächelnd antwortet der Meister, ohne zu zögern: „Die zweite Geige. Jeder möchte furchtbar gerne die erste Geige spielen, und es gibt nur wenige, welche die gleiche Begeisterung und das gleiche Interesse für die zweite Geige aufbringen. Alle sterben nur nach der Stellung des ersten Geigers, und nur wenige verstehen, wie wichtig der zweite Geiger ist. Die berühmtesten Orchester der Welt sind die, welche die besten zweiten Geiger haben – denn alle Orchester haben ausgezeichnete erste Geiger. Ohne die zweite Geige aber gibt es keine Harmonie!“

    Die Herausforderung von erster zur zweiten Geige

    „Die zweite Geige zu spielen“ – das ist etwas, was eigentlich nicht „in“ ist. Es bedeutet, dass jemand anderes den Ton vorgibt; dass man sich nach einem anderen zu richten hat. In den Medien wird nur von den Stars und selten von den Zweiten oder Dritten berichtet. Es wird berichtet von Reichen und Schönen – aber auch davon, dass das Stehen im Rampenlicht nicht zugleich bedeutet, dass diese Menschen glücklicher sind. Auch das Spielen der ersten Geige hat so seine ganz eigene Herausforderung, der auch nicht jeder gleich gewachsen ist.

    Die Bedeutung der Bescheidenheit

    Von solchen Erfahrungen weiß auch das Buch Jesus Sirach zu berichten: Es ist ein Erziehungsbuch; eine Sammlung von Weisheiten für Lehrer und für Eltern. Der Rat, den wir in der heutigen Lesung gehört haben, lautet: „Bei all deinem Tun bleibe bescheiden, und du wirst geliebt werden. Je größer du bist, um so mehr bescheide dich, dann wirst du Gnade bei Gott.“ (Sir 3,17f) Und genau das hat auch Jesus verkündet und vorgelebt: Das Vermächtnis an seine Jünger war (nach dem Johannesevangelium) die Fußwaschung (Joh 13,1-20), der Dienst der Nächte. Jesus sagt: Den Kleinen gehört das Himmelreich; er spricht jene selig, die leiden, unterdrückt werden, trauern… Und er warnt alle, die Macht haben, dass diese Macht, dass ihr Reichtum sie hindern kann, ins Himmelreich zu kommen. Für bescheidene, einfache Menschen ist der Weg ins Himmelreich zu kommen. Für bescheidene, einfache Menschen ist der Weg ins Himmelreich anscheinend viel leichter als für Reiche und Mächtige.

    Die Tugend der Demut

    Die Tugend der Demut wird sehr leicht gering geschätzt – weil sie nicht laut ist; weil man ihr vorwerfen kann, dass sie sich nur anpasst; weil sie die Gefahr mit sich bringt, Unterdrückung zu fördern. Demut meint aber nicht Unterwürfigkeit – es geht vielmehr eine Gesinnung des Dienens, die sich ableitet vom Wissen, dass letztlich alles von Gott abhängt, dem Schöpfer und Erlöser. Im Lateinischen sieht man diesen Zusammenhang sehr schön: Demut heißt da „humilitas“ – und das hat dieselbe Wurzel wie „Humus“, Erde. Demut meint also eine Erdverbundenheit und wehrt jeglichem Abgehobensein. 

    Demut als Weg zur Harmonie

    Und diese Demut ist es, die Zusammenleben erst möglich macht. Wenn im Zusammenleben alle die erste Geige spielen wollten, dann gäbe es keine Familien und keine Gesellschaft – denn auch hier bedarf es der vielen, die zum Konzert beitragen, damit Harmonie im Zusammenleben entsteht. Und von dieser Demut sagt schon das Alte Testament im Buch der Sprüche: „Wo aber Demut ist, da ist auch Weisheit“ (Spr 11,2). Noch einmal: Es geht nicht darum, nur still zu sein und nicht aufzumucken – das wäre falsch verstanden Demut. Nicht Kadavergehorsam ist von uns Christen gefordert, sondern das Einstehen für unsere Überzeugungen – aber eben im Wissen, dass es nicht um die eigene Größe geht, sondern um die Größe Gottes. Und es braucht die Haltung, alle gleich zu achten, die ihren Beitrag zu diesem Orchester leisten – ob in erster, zweiter oder in letzter Reihe.

  • Bitten

    Geist des ewigen Gottes, der du die Trauernden tröstest und das Getrennte zusammenführst, wir rufen zu dir:

    A: Besuche die Herzen deiner Kinder.

    – Fege unsere Vorurteile und Beschränktheiten hinweg wie ein Sturmwind.
    – Lindere die Not der Verzagten mit deiner Sanftmut.
    – Atme in uns, damit wir ganz in dir leben.

    A: Besuche die Herzen deiner Kinder.

    Vaterunser

    Oration

    Gott, du Beschützer aller, die auf dich hoffen, ohne dich ist nichts gesund und nichts heilig. Führe uns in deinem Erbarmen den rechten Weg und hilf uns, die vergänglichen Güter so zu gebrauchen, dass wir die ewigen nicht verlieren. Darum bitten wir durch Jesus Christus.

    Gnade und unvergängliches Leben sei mit allen, die Jesus Christus, unseren Herrn, lieben.
    Eph 6, 24

    Quelle: Magnificat – das Stundenbuch am 27.7.2025, dem Tag der Großeltern

  • Dunkelheiten in uns

    In jener Zeit erzählte Jesus der Menge folgendes Gleichnis: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Mann, der guten Samen auf seinen Acker säte. Während nun die Menschen schliefen, kam sein Feind, säte Unkraut unter den Weizen und ging weg.
    Als die Saat aufging und sich die Ähren bildeten, kam auch das Unkraut zum Vorschein. Da gingen die Knechte zu dem Gutsherrn und sagten: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher kommt dann das Unkraut? Er antwortete: Das hat ein Feind getan. Da sagten die Knechte zu ihm: Sollen wir gehen und es ausreißen?
    Er entgegnete: Nein, damit ihr nicht zusammen mit dem Unkraut den Weizen ausreißt. Lasst beides wachsen bis zur Ernte und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber bringt in meine Scheune!


    Mt 13, 24–30


    Impuls zum Evangelium

    Ein reifer und liebesfähiger Mensch werden, also ein Mensch nach Gottes Herzen, wie geht das? Gewiss nicht, indem wir, volle Kraft voraus, für uns und für alle Welt Fehlerlosigkeit und Vollkommenheit ansteuern. Dies führt wohl unweigerlich zu Verhärtung und Heuchelei, zu Selbstgerechtigkeit. Zu einer Art von Leistungsspiritualität, die Gottes heiligem Geist, seiner bewegenden Geistkraft, der biblischen Ruach, misstraut.

    Der Schöpfer Geist und die Botschaft Jesu lehren etwas anderes. Da geht es nicht um Abtötung, Aburteilung und Ausmerzung von Schwäche oder gar der Schwachen, sondern darum: Nimm erst einmal wahr und versuche zu erkennen, was die Schwäche dir zu sagen hat. Geduld! Verändern können wir nur, was wir annehmen, auch das Schwere und Dunkle.

    Die Dunkelheiten in uns. Das ist Gottes Geduld. Das ist Gottes Huld.

    Quelle: Magnificat – das Stundenbuch vom 26.7.2025

  • Christophorus

    Christophorus – der Christusträger – Träger der Liebe – Tor zum Paradies?

    Am 24. Juli feiern viele Christoph in Österreich ihren Namenstag. Das geht auf den Heiligen Christophorus zurück.

    Im Mittelchor des Stephansdoms blickt uns seine eindrucksvolle Statue entgegen: Ein kraftvoller Mann, das Kind auf der Schulter. Mit jedem Schritt trägt er nicht nur ein Kind – sondern das Gewicht der ganzen Welt.

    Die Legende erzählt:
    Christophorus wollte nur dem Mächtigsten dienen. Er diente Königen, dem Teufel – bis er schließlich Christus fand. Als Fährmann trug er den Knaben durch einen reißenden Fluss. Das Kind wurde immer schwerer. Bis Christophorus erkannte:

    Er trägt den Sohn Gottes.
    Die Liebe selbst.

    Hl. Christophorus – von Niclas Gerhaert van Leyden – im Mittelchor des Wiener Stephansdoms


    Ein Bild für uns alle, besonders in Zeiten der Trauer:

    Auch wir dürfen Christus tragen.

    Auch wir dürfen einander tragen – durch das Wasser des Schmerzes.

    Und manchmal geschieht das schon hier: im Gespräch, im Verzeihen, in der Gnade.

    Gestern in unserer Bibelrunde sagten wir: Wir dürfen immer auf die Liebe Gottes vertrauen.

    Vergebung ist stärker als das Urteil.
    Gnade ist tiefer als die Schuld.
    Liebe ist stärker als der Hass.


    Vielleicht ist Christophorus auch ein Bild für das Paradies

    Nicht nur als jenseitiges Ziel. Sondern als eine Kraft, die uns hier schon verwandeln kann.

    Wer liebt, trägt. Und wer getragen wird, hat einen Freund.
    Einen Freund? Einen Vater? Gott selbst? „Vater unser“.

  • Führe mich zu einem guten Ende

    In Tiefen, die kein Trost erreicht,
    lass doch deine Treue mich erreichen.
    In den Nächten, wo der Glaube weicht,
    lass nicht deine Gnade von mir weichen.

    Auf dem Weg, den keiner mit mir geht,
    wenn zum Beten die Gedanken schwinden,
    wenn mich kalt die Finsternis umweht,
    wollest du in meiner Not mich finden.

    Wenn die Seele wie ein irres Licht
    flackert zwischen Werden und Vergehen,
    wenn es mir an Trost und Rat gebricht,
    wollest du an meiner Seite stehen.

    Wenn ich deine Hand nicht fassen kann,
    nimm die meine du in deine Hände,
    nimm dich meiner Seele gnädig an,
    führe mich zu einem guten Ende.

    Justus Delbrück (1902–1945)
    aus einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager

  • Hic est dies verus Dei


    Wahrhaft, dies ist der Tag des Herrn,
    verklärt von Gottes heil’gem Licht,
    der Tag, an dem die Schuld der Welt
    durch Jesu Blut wird ausgelöscht.


    Verlorene lässt dieser Tag
    das Licht der Hoffnung wieder sehn.
    Wer ist nicht von der Angst erlöst,
    wenn selbst der Schächer Gnade fand?


    Er, dessen Schuld den Tod verdient’,
    gab sich in Christi Hand und lebt.
    Welch ein Gericht vollzieht sich hier,
    welch ein Geheimnis tut sich kund!


    Was könnte wunderbarer sein,
    als dass aus Schuld nun Gnade wird,
    dass Liebe von der Furcht befreit,
    und Tod das neue Leben schenkt?


    Dem Herrn sei Preis und Herrlichkeit,
    der aus dem Grabe auferstand,
    dem Vater und dem Geist zugleich
    durch alle Zeit und Ewigkeit. Amen.


    Nach: Hic est dies verus Dei; Ambrosius, † 397
    Melodie: GL 339 · GL 1975 229