Schlagwort: Verbundenheit

  • Im Paradies

    Wenn der Mensch der Zukunft eines können muss, dann dies:
    zärtlich denken, klar fühlen, wahr handeln und weite Beziehungen leben.
    Das ist die „Kompetenz des Paradieses“.

    Und zu dieser Kompetenz gehört eine Fähigkeit, die älter ist als jede Religion und tiefer als jedes Wissen: Dankbarkeit.


    Dankbarkeit ist ein Bewusstseinsakt, kein Gefühl

    Sie entsteht in dem Moment, in dem der Mensch erkennt:
    „Ich habe nicht alles verdient. Vieles wurde mir geschenkt.“
    Es ist die Sanftheit der Demut.
    Eine KI kann berechnen, aber sie kann nicht danken.
    Denn Dankbarkeit braucht ein „Ich“ und ein „Du“.

    Dankbarkeit macht Beziehungen weit

    Ein dankbarer Mensch wird weicher, offener, wärmer.
    Dankbarkeit löst die Enge in uns, die Anspruch und Erwartung erzeugt.
    Sie schützt vor Verbitterung und Überforderung.
    Dankbare Menschen atmen tiefer — und lassen andere tiefer atmen.

    Dankbarkeit heilt das Herz

    Psychologisch gilt:
    Dankbare Menschen sind widerstandsfähiger, friedvoller, stabiler.
    Dankbarkeit ist die Innenseite von Frieden.
    Sie macht uns nicht blind für das Schwere,
    aber fähig, es zu tragen.

    Dankbarkeit ist ein spiritueller Sinnakt

    In der Dankbarkeit erkennt der Mensch:
    „Ich bin getragen.“
    Nicht allein, nicht zufällig, nicht verloren.
    Es ist das stille Vertrauen, dass Leben nicht nur Last ist,
    sondern auch Geschenk.

    Dankbarkeit ist die Basis jeder Liebe

    Ohne Dankbarkeit entstehen Besitz, Anspruch, Kontrolle.
    Mit Dankbarkeit werden sie zu Nähe, Freiheit, Beziehung.
    Dankbarkeit öffnet das Herz, bevor Liebe einziehen kann.
    Sie ist die Wärme im Hintergrund jeder echten Begegnung.

    Nur der Mensch kann danken.
    Deshalb bleibt er — bei aller KI, bei aller Technik, bei allem Fortschritt —
    ein Wesen von unvergleichlicher Tiefe.

    Und vielleicht ist das die schönste Wahrheit:
    Das Paradies beginnt dort,
    wo ein Mensch dankbar wird.

  • Wir gehören einander an

    In einer Zeit, in der sich viele zurückziehen, Mauern bauen und Unterschiede betonen, ist es gut, sich zu erinnern:
    Wir sind miteinander verwoben.
    Was einem geschieht, betrifft uns alle.

    No man is an island,
    Entire of itself.
    Each is a piece of the continent,
    A part of the main.
    If a clod be washed away by the sea,
    Europe is the less,
    As well as if a promontory were,
    As well as if a manor of thine own
    Or of thine friend’s were.
    Each man’s death diminishes me,
    For I am involved in mankind.
    Therefore, send not to know
    For whom the bell tolls,
    It tolls for thee.

    Niemand ist eine Insel,
    ganz für sich allein.
    Jeder ist ein Teil des Kontinents,
    ein Stück des Ganzen.
    Würde das Meer einen Klumpen Erde fortspülen,
    Europa wäre kleiner –
    so wie, wenn ein Kap verschwände,
    oder dein eigener Landsitz,
    oder der eines Freundes.
    Jedes Menschen Tod mindert mich,
    denn ich bin mit der Menschheit verbunden.
    Darum frag nicht,
    wem die Stunde schlägt –
    sie schlägt für dich.

    John Donne (englischer Dichter, 1572–1631)


    John Donne erinnert uns daran, dass Individualität ohne Verbundenheit leer bleibt. Sein Gedicht ist kein moralisches Mahnwort, sondern ein metaphysischer Gedanke: Wir existieren nur im Mitsein. Jeder Verlust – ob fern oder nah – betrifft das Ganze. Diese Einsicht ist älter als Europa und zugleich seine moralische Voraussetzung.

  • Allerheiligen – Ankommen im Licht

    Am Beginn des dunklen Monats November leuchtet Allerheiligen wie ein Versprechen auf. Wir feiern alle, die vollendet sind in Gottes Licht – die bekannten Heiligen ebenso wie die unzähligen stillen Menschen, die durch Güte, Hingabe und Liebe Zeugnis ihres Glaubens gegeben haben.
    Allerheiligen erinnert uns daran, dass Heiligkeit kein exklusiver Titel ist, sondern eine Richtung: hin auf Gott. Wer liebt, heilt. Wer vergibt, heiligt. Wer in dunklen Zeiten das Gute sucht, leuchtet schon jetzt im Glanz der Ewigkeit.

    Das Hochfest Allerheiligen hat seine Wurzeln in der frühen Kirche, als man der Märtyrer gedachte. Heute gilt der Tag allen, die uns im Glauben vorangegangen sind. Ihr Leben ist nicht vergangen, sondern verwandelt – in eine Gegenwart bei Gott.

    Hilde Reiser, „Licht“, Acrylfarben auf Papier, 73 × 52 cm, 2012, Privatbesitz © Rechtenachfolge

    Die Kunst der Malerin Hilde Reiser (1929–2019) gibt diesem Geheimnis eine Form: Ihr Bild „Licht“ zeigt Menschen, die sich aus der Dunkelheit in einen leuchtenden Strudel des Lebens ziehen lassen. Der Sog der Farben erinnert daran, dass wir alle auf dieses Licht hin unterwegs sind. Allerheiligen feiert diese Bewegung – das Aufstehen, das Ankommen, das Heimkehren.

    So ist dieser Tag kein Tag der Trauer, sondern der Hoffnung. Wir sind verbunden mit denen, die das Ziel schon erreicht haben – und zugleich gerufen, in unserem Alltag Spuren dieses Lichts zu hinterlassen.