Schlagwort: Tao

  • Sonnenwende

    Tag 172. Wenn das wahre Licht erscheint, wendet sich der ganze Planet ihm zu. Die Sommersonnenwende ist die Zeit des stärksten Lichts. Sie ist ein enorm kraftvoller Tag. Der ganze Planet wendet sich dem Strahlen der Sonne zu.

    Diese mächtige Kulmination ist weder statisch noch dauerhaft. Die Sonnenwende als Zeit der Kulmination ist tatsächlich ein kaum wahrnehmbarer Punkt. Die Sonne scheint stillzustehen. Ihre tägliche Bewegung scheint beinahe anzuhalten. Gestern war sie noch auf dem Weg zu diesem Punkt; morgen wird sie eine neue Phase ihres Zyklus beginnen.

    Jene, die Tao folgen, feiern diesen Tag, um sich an die Zyklen der Existenz zu erinnern. Sie erinnern sich daran, dass alle Zyklen ein Links und ein Rechts haben, ein Oben und ein Unten, einen Höhepunkt und einen Tiefpunkt.

    Heute überwiegt der Tag die Nacht und trotzdem wird sich die Nacht langsam durchsetzen. Alles Leben verläuft in Zyklen. Alles Leben ist Harmonie. Deshalb sollten wir feiern, aber nicht hochmütig sein. Denn immer, wenn man einen großen Erfolg feiert, nähert sich auch die Antithese.

    Genauso gilt, nicht in Trauer zu verfallen, wenn man im Unglück ist. Denn wenn man trauert, nähert sich die Antithese ebenso. Jene, die wissen, wie man den Höhepunkt eines jeden Zyklus erreicht und sein Strahlen bewahrt, sind die Weisesten von allen.

    Inspiration: Deng, Ming-Dao. 365 Tao: Meditationen für jeden Tag des Jahres

  • TAO – Abschied und christliche Perspektive 🕊

    „Gehe den Pfad gemeinsam, solange du kannst, und wenn eine Trennung unvermeidlich ist, halte deinen Gefährten nie ab.“

    Ein schöner Gedanke aus dem Taoismus: Abschied gehört zum Leben. Menschen begleiten uns eine Zeit lang auf unserem Weg – manchmal für viele Jahre, manchmal nur kurz. Und dann trennen sich die Wege. Oft bleibt bei uns eine Mischung aus Schmerz, Schuldgefühlen oder Fragen zurück.

    Feder

    Als christlicher Begleiter erkenne ich: Auch Jesus selbst hat diese Gefühle gekannt. Er hat getrauert, geliebt und losgelassen. Seine Menschlichkeit zeigt uns: Trauer ist kein Mangel an Glauben – sie ist ein Ausdruck unserer Liebe.

    Doch wir dürfen zugleich Hoffnung aus unserem Glauben schöpfen, denn:
    „Christus hat dem Tod den Stachel gezogen.“
    (vgl. 1 Kor 15,55–57)

    Der Tod bleibt eine Wirklichkeit, aber er hat nicht mehr das letzte Wort. Die Auferstehung Jesu schenkt uns Zuversicht, dass das Leben weitergeht – in Gott.

    Wir dürfen weinen und hoffen zugleich.

    Was hat euch geholfen, in Zeiten des Abschieds Trost zu finden?

  • Ehe


    Inspiriert durch Deng Ming-Dao, „365 Tao: Meditationen für jeden Tag des Jahres“, Arkana Verlag, 1992, Tag 139

    Mauer aus Flammen. Brücke aus Tränen.
    Schneeflocke auf frisch geschmiedeten Kettengliedern.

    Eine Ehe, die Bestand hat, ist kein Zufall. Sie wird geschmiedet – Glied für Glied, unter Hitze, durch Mühe und Hingabe. Wie Eisen, das erst im Feuer der Leidenschaft formbar wird und dann im Wasser der Tränen abkühlt, entsteht aus Nähe und Konflikt eine Verbindung, die trägt.

    Es ist schwer, allein durchs Leben zu gehen. Jeder von uns sehnt sich nach Zugehörigkeit, nach einem Du, das mit uns in dieselbe Richtung schaut. Damit das gelingt, braucht es gemeinsame Werte, Ziele, Perspektiven. Ehe ist kein romantisches Dauerfeuer, sondern die Kunst, auch in Stille und Spannung verbunden zu bleiben.

    Wir erwarten oft, dass unser Partner zugleich unser bester Freund, Liebhaber und Vertrauter ist – aber wahre Verbindung gründet tiefer. Auch wenn sie äußerlich brüchig scheint, kann in ihr eine Treue leben, die in keiner anderen Beziehung vorkommt. Und doch mahnt uns das Tao: Auch in der stärksten Bindung braucht es Maß, Freiheit, Atem.

    Denn jede Beziehung ist endlich. Wer sich krampfhaft aneinander klammert, verliert das klare Sehen. Liebe darf keine Sucht werden. Halten wir niemanden fest. Zwingen wir niemanden, zu bleiben. Definieren wir uns nicht über den anderen. Und doch – wenn das Leben uns erlaubt, ein Stück gemeinsam zu gehen, dürfen wir dankbar sein.

    Wenn es Zeit ist, sich zu trennen, dann ist es Zeit. Ohne Reue. Denn die Schönheit der Ehe gleicht einer Schneeflocke: vollkommen im Moment – und doch vergänglich.

    Foto: Alexey Kljatov, 2025

  • Lebewohl

    Gedanken aus dem Taoismus lösen bei mir manchmal kühle Distanz aus. Manchmal öffnen sie auch einen anderen Blickwinkel.

    Die Wege mancher Menschen kreuzen sich manchmal nur kurz, wenn sie Freundschaft schließen, aber das macht diese Zeit nicht weniger wertvoll. Wir müssen die Unterstützung nutzen und auf eine Weise teilen, von der alle Beteiligten profitieren. Immer wenn wir dem anderen etwas wegnehmen, sollten wir versuchen, ihm etwas zurückzugeben. Das ist wichtig. Niemand sollte sich auf eine andere Person verlassen oder erwarten, über eine lange Strecke hinweg getragen zu werden. Freunde sollten so lange nebeneinanderher gehen, wie ihre gemeinsame Reise dauert, ohne sich voneinander abhängig zu machen.

    Es sollte keine Verpflichtungen geben. Wenn ich jemandem helfen kann, sollte ich es ohne zu zögern oder ohne die Erwartung einer Belohnung oder späteren Schuldbegleichung tun. Wenn es etwas gibt, das ich lernen muss und das mir mein Gefährte zeigen kann, sollte ich diese Lektion bescheiden annehmen. Niemand »besitzt« Wissen. Es sollte frei geteilt werden.

    In jeder Begegnung steckt der Keim des Abschieds. Nichts währt ewig. Die Flüchtigkeit verleiht dem Leben seine Prägnanz. Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich. Man kann keinen anderen Weg gehen als seinen eigenen.

    Quelle
    Deng Ming-Dao: 365 Tao – Meditationen für jeden Tag des Jahres.
    Tag 98, 8.4.2025
    Übersetzung: Dr. Kimiko Leibnitz.
    München: FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH, 2023.
    ISBN Print: 978-3-95972-658-0.