Seit 1995 lese ich täglich Magnificat – Mein Stundenbuch. Das ist ein auf Dünndruckpapier gedrucktes Monatsheft mit rund 300 Seiten, das für jeden Tag des Monats die Legende des / der Tagesheiligen, das Morgengebet, die Texte der Eucharistiefeier und das Abendgebet beinhaltet. Der anschließende redaktionelle Teil beinhaltet Themen des Monats.
Gleich am Beginn wird das Titelbild ausführlich von Domkapitular Msgr. Dr. Heinz Detlef Stäps aus Rottenburg beschrieben. Er hat mir ausdrücklich gestattet, seinen Text hier zu verwenden. Diese Texte sind für mich eine Meditation für den jeweiligen Monat. Das heurige Juli-Bild befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek.

Erschaffung der Welt, Bible Moralisée, Paris, um 1225, Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Cod. Vindobonensis 1179, fol. 1v
Aus Gott geboren
Jede Bible Moralisée des 13. Jahrhunderts zeigt den Schöpfer der Welt sozusagen als Titelbild (Frontispiz) vor dem eigentlichen Text mit den Medaillons. Bevor die einzelnen Teile der Bibel interpretiert werden, soll als Voraussetzung deutlich gemacht werden, dass die Welt aus Gottes Händen kommt, dass sie durch seinen Willen erschaffen wurde und er ihr „Architekt“ und Planer ist.
Wort, durch den die Welt geschaffen wurde.
Insofern können wir hier durchaus ein Bild Christi erkennen, der in seiner Beteiligung am Schöpfungswerk gezeigt wird.
Der Schöpfungsakt
Christus hält eine Kugel oder Scheibe auf dem Schoß. Diese ist mit verschiedenen Farben und Formen als die nach dem biblischen Bericht entstehende Welt gezeigt. In der Mitte sind gelb-grüne vegetabile Formen zu sehen, die das entstehende Leben auf der Erde meinen. Sie sind noch umgeben vom Schwarz der Finsternis über der Urflut (vgl. Gen 1, 1). Auch diese Urflut ist, von einem weißen Saum getrennt, von außen zu sehen. Nach dem biblischen Weltbild ist es aber auch das „Wasser oberhalb des Gewölbes“ (= Himmel) (Gen 1, 7), wie man sich den Regen erklärte. Außen umgibt die gesamte Welt ein grüner Rand, an dem Christus sie hält und trägt.
Das Instrument, das Christus in der Hand hält, ist ein Zirkel. Mit dem Zirkel übertragen früher Architekten auf den Plänen die Maßeinheiten und legten Messpunkte fest. Christus wird hier also als Architekt der Welt gezeigt. Er plant und beugt. Er plant und bemisst die Schöpfung, er legt die Mitte der Welt fest und bestimmt die Abstände der Schöpfung.
Wer ist hier dargestellt?
Die bildbeherrschende Person ist hier im Sitzen dargestellt. Andere Fassungen der Bible Moralisée zeigen sie stehend. Hier sitzt sie auf einem Faldistor (liturgischer Klappstuhl) und ist mit rot-blauen Gewändern bekleidet, die ornamentale Verzierungen zeigen. Die Füße sind nackt und der nach rechts geneigte Kopf wird von einem goldenen Nimbus mit Kreuz umgeben. Damit ist klar, dass es sich hier um eine der drei göttlichen Personen handeln muss: Gott Vater, Sohn oder Heiliger Geist. Ein Blick in das Gesicht des Mannes, vom welligen dunklen Bart und von ebensolchen, langen Haaren gerahmt, legt uns die Überzeugung nahe, dass es sich hier um Christus, die zweite göttliche Person, handeln muss. Doch so einfach ist es nicht.
Die Bibel spricht in beiden Schöpfungsberichten (Gen 1, 1 – 2, 3 und Gen 2, 4–25) von „Elohim“ (Gott, eigentlich Plural) bzw. sie benutzt ab Gen 2, 4 auch den Gottesnamen „JHWH“. Damit ist klar, dass hier der Vater gemeint ist, er ist der Schöpfer, aus seinem Willen entsteht alles Geschaffene.
Da der Vater aber nicht konkret darstellbar ist, wurde er in der mittelalterlichen Kunst manchmal mit den Zügen Christi gezeigt. Bei Darstellungen der Marienkrönung sehen wir dann zum Beispiel zweimal Christus mit der Taube des Geistes dazwischen (vgl. St. Georg in Gelbersdorf, Altar im nördlichen Seitenschiff, 15. Jh.). Insofern kann eine Darstellung Christi durchaus den Vater und damit den Schöpfergott meinen. Biblische Grundlage dafür ist Kol 1, 15, wo Christus das Ebenbild des unsichtbaren Gottes genannt wird.
Hier ist es aber anders: Als Christen haben wir einen eigenen Blick auf die Schöpfungsgeschichte. Wir sehen hier nicht nur Gottvater tätig, sondern auch der Sohn und der Geist haben Anteil am Schöpfungswerk. „Gottes Geist schwebte über dem Wasser“ heißt es in Gen 1, 2 und wir nennen den Heiligen Geist im Glaubensbekenntnis denjenigen, der lebendig macht.
Noch deutlicher ist die Beteiligung der zweiten göttlichen Person am Schöpfungswerk. Im schon erwähnten Kolosserhymnus heißt es über Christus: „Denn in ihm wurde alles erschaffen […] alles ist durch ihn und auf ihn erschaffen.“ (Kol 1, 16) Dies ist theologisch ja auch ganz einleuchtend: Christus ist das Wort, der Lógos (vgl. Joh 1, 1 f.) und „alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist“ (Joh 1, 3). Und der biblische Schöpfergott muss im Gegensatz zu den Göttern des Vorderen Orients nicht kämpfen, um die Welt zu erschaffen, sondern er spricht (vgl. Gen 1, 3.6 etc.). Für die christliche Theologie ist es deshalb Christus, das
Im Gegensatz zu anderen Darstellungen ist er hier sitzend gezeigt, mit der Schöpfung im Schoß. Natürlich ist das kein Zufall. Der Maler hat hier ausdrücken wollen, dass die Schöpfung nicht nur durch Gottes Hände gestaltet wurde, sondern dass sie aus Gott geboren ist. Die Welt ist keine Kopfgeburt und kein Hand-Werk, sie stammt aus der Mitte der Liebe Gottes. Sie steht in Beziehung zu ihrem Schöpfer, aber sie ist auch ein Werk der Beziehung Gottes in sich, der Liebe zwischen Vater, Sohn und Geist. Gerade deshalb ist die Beteiligung aller drei göttlichen Personen so wichtig.
Mandorla und Engel
Die Christusfigur wird von einem mehrfachen Rahmen in der Form eines ovalen Vierpasses umgeben. Ohne Zweifel ist hiermit die gotische Form der Mandorla gemeint, eine Art Ganzkörpernimbus, mit dem Christus herausgehoben wird und der seine göttliche Herrlichkeit unterstreicht. Dementsprechend ist sowohl innen als auch außen Blattgold aufgebracht, das mit Ornamenten ziseliert wurde.
Auffällig ist, dass in allen vier Ecken Engel gemalt wurden, die in seltsamen Verrenkungen mit ihren Flügeln, Füßen und Gewandzipfeln die Eckfelder möglichst gut ausfüllen. Alle halten mit beiden Händen die Mandorla und schauen zu Christus hinauf bzw. herunter.
Wir haben hier keine Maiestas Domini vor uns, dazu müssten die vier Engel durch die vier (apokalyptischen) Wesen (vgl. Ez 1, 5–10) ersetzt werden und als Thronassistenten einer Theophanie (Gotteserscheinung) fungieren. Hier bezeugen die Engel die himmlische Herrlichkeit des Herrn, der die Welt ins Sein ruft und sich somit ein irdisches Gegenüber schafft. Sie ist sein Werk, von ihm geplant und geschaffen, sie entspringt seinem Willen und seinem Können. Sie ist aus ihm geboren und somit der ideale Lebensraum für die Menschen als Ebenbild Gottes (vgl. Gen 1, 27). Sie werden das eigentliche Gegenüber Gottes sein, Produkt und Ziel seiner Liebe, und zu ihrer Erlösung wird Christus in dieser Welt als Mensch geboren werden.
Heinz Detlef Stäps
aus der Mitte Gottes kommt alles was ist
er ist die Mitte der Welt
wer sich finden will muss Gott
suchen
in der Mitte der eigenen Seele
Heinz Detlef Stäps
Quelle: Magnificat. Das Stundenbuch (Monatsausgabe Juli 2025), Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer, Online-Ausgabe, S. 10–16.