Schlagwort: Kyrie

  • Ein Begräbnis als Fest der Vergebung

    … und ein kleines Wunder einen Monat später.

    Manchmal sind Familiengeschichten von so viel Schmerz überschattet, dass selbst die Erinnerung schwer erträglich bleibt. Vor allem, wenn es um sexuellen Missbrauch innerhalb der eigenen Familie geht. Und doch: im Angesicht des Todes, mitten in der Trauer, kann ein Raum entstehen, in dem Worte der Vergebung heilsam wirken.

    Das Begräbnis

    Vor einem Monat habe ich am Wiener Zentralfriedhof die Beisetzung eines erfolgreichen Immobilienmaklers geleitet. Hinter dem äußeren Glanz dieses Lebens verbarg sich viel Dunkelheit. Seine Tochter erzählte mir von dem, was die Öffentlichkeit nie erfahren sollte: dass er mehrfach versucht hatte, sie und später auch seine Enkelin zu missbrauchen. Aus Angst um den „guten Ruf“ wurde all das in der Familie totgeschwiegen.

    Das Schweigen aber hatte seinen Preis: Tochter und Enkelin litten jahrzehntelang – seit 25 Jahren waren sie in psychiatrischer Behandlung. Nach außen schien die Familie intakt, doch innen war das Vertrauen zerbrochen. Die Tochter wollte späte Rache. Ich sollte alle Verfehlungen des Verstorbenen in der Trauerrede aussprechen. Gleichsam eine Anklage einem Toten gegenüber.

    Die Ehefrau hatte das Ganze für sich längst gelöst. Sie war seit dem versuchten Missbrauch die heimliche Geliebte ihres Yoga-Lehrers und mit ihm auf der ganzen Welt unterwegs.


    Das Kyrie – eine unerwartete Wendung

    Wie spricht man in einer Trauerrede über einen Menschen, der so sehr verletzt hat? Gar nicht! Weil das der falsche Ort und die falsche Zeit sind. Darum habe ich in der Feier gleich nach der Eröffnung dem Kyrie – dem Herr erbarme Dich Raum gegeben.

    Es steht uns frei, das Erbarmen Gottes auf den Verstorbenen herab zu bitten.
    Herr, erbarme Dich!

    Wir haben hier die Gelegenheit, für ihn und für uns um Vergebung zu bitten.
    Christus, erbarme Dich!

    Niemand von uns ist ohne Schuld. Doch indem wir Schuld vergeben, machen wir uns Christus ähnlich.
    Herr, erbarme Dich!

    Beim ersten Satz habe ich der Tochter fest und liebevoll in die Augen geschaut – und innerlich hörte ich eine Stimme: „Lass gut sein. Ich mach’ das schon…“
    Was ich dann wirklich gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Aber ich habe gehört, dass alle laut „Herr, erbarme Dich! Christus erbarme Dich. Herr, erbarme Dich!“ , wiederholt haben – und ich habe gesehen, wie sich Gesichter veränderten: überrascht, dann sanft, liebevoll. Plötzlich war im Raum ein Wohlwollen und eine Herzlichkeit, wie ich sie sonst nur in der Messe beim Friedensgruß erlebe.

    Nach der Beerdigung haben mir Mutter und Tochter lange die Hand gedrückt und leise gesagt: „Danke!“

    Seit diesem Tag weiß ich: Ich kann mich vollkommen auf den Herrn verlassen. Das nimmt mir nicht die Aufgabe, mich gut vorzubereiten – aber ich darf im entscheidenden Moment ganz darauf vertrauen, dass Er wirkt.


    Stimmen der Gemeinschaft

    Nach dem Kyrie sprachen Mitarbeiter über gemeinsame Erlebnisse, kurz, ehrlich, mit Respekt. Auch ein Studienfreund erzählte eine Episode aus der Jugend. Kleine, helle Erinnerungen – nicht um das Dunkel zu übertönen, sondern um das Ganze zu tragen.


    Das Wunder danach

    Heute – einen Monat später – schrieb mir die Tochter eine Nachricht:

    „Danke, lieber Harald. Mona und ich waren heute zum letzten Mal beim Psychiater. Wir sind seit dem Begräbnis geheilt. Wir konnten endlich Opa loslassen und segnen.“

    In diesen Worten liegt das ganze Wunder: Was über Jahrzehnte unerträglich war, konnte in einem Moment des gemeinsamen Gebets verwandelt werden.


    Erklärung zum Bild

    Das Bild, das diesen Artikel begleitet, zeigt eine Farbharmonie:

    • innen Rot und Orange – Schmerz, Wunde, Wahrheit
    • in der Mitte Gelb und Türkis – Entscheidung, Loslassen
    • außen Blau und Violett – Gnade, Weisheit, Frieden
    • im Zentrum ein weißgoldenes Leuchten – Symbol für die Liebe Gottes, die alles umfängt

    So wird das Bild selbst zum Gebet: aus Dunkel wird Licht, aus Schmerz wird Frieden.


    Schlussgedanke

    Vergebung bedeutet nicht, das Geschehene kleinzureden. Vergebung bedeutet, den Schmerz beim Namen zu nennen – und ihn Gott hinzulegen. So kann Heilung geschehen.

    Dieses Begräbnis wurde zu einem Fest der Vergebung. Nicht, weil der Verstorbene ein gerechter Mensch gewesen wäre, sondern weil Gnade stärker ist als Schuld.


    Anhang

    Sieben Schritte zur Vergebung

    Nr.StufeSchlüsselHaltung
    1Anerkennen –
    „Ja, das ist geschehen.“
    Realität zulassenIch stelle mich dem Schmerz.
    2Fühlen –
    „Es hat wehgetan.“
    Emotionen zulassenIch fühle, ohne mich zu verlieren.
    3Verstehen –
    „Das hat mit mir zu tun.“
    Innere KlärungIch erkenne Muster und Zusammenhänge.
    4Entscheiden –
    „Ich will vergeben.“
    Freier Akt des WillensIch löse mich von der Bindung ans Unrecht.
    5Loslassen –
    „Ich lasse los, was mich blockiert,“
    Befreiung durch VerzichtIch übergebe das Urteil an Gott.
    6Lernen –
    „Ich nehme die Erfahrung an.“
    Reifung durch ErkenntnisAus der Wunde wird Weisheit.
    7Frieden –
    „Ich bin frei.“
    Segen statt BitterkeitIch wünsche Heil – auch dem anderen.