Schlagwort: Ethik

  • Wir gehören einander an

    In einer Zeit, in der sich viele zurückziehen, Mauern bauen und Unterschiede betonen, ist es gut, sich zu erinnern:
    Wir sind miteinander verwoben.
    Was einem geschieht, betrifft uns alle.

    No man is an island,
    Entire of itself.
    Each is a piece of the continent,
    A part of the main.
    If a clod be washed away by the sea,
    Europe is the less,
    As well as if a promontory were,
    As well as if a manor of thine own
    Or of thine friend’s were.
    Each man’s death diminishes me,
    For I am involved in mankind.
    Therefore, send not to know
    For whom the bell tolls,
    It tolls for thee.

    Niemand ist eine Insel,
    ganz für sich allein.
    Jeder ist ein Teil des Kontinents,
    ein Stück des Ganzen.
    Würde das Meer einen Klumpen Erde fortspülen,
    Europa wäre kleiner –
    so wie, wenn ein Kap verschwände,
    oder dein eigener Landsitz,
    oder der eines Freundes.
    Jedes Menschen Tod mindert mich,
    denn ich bin mit der Menschheit verbunden.
    Darum frag nicht,
    wem die Stunde schlägt –
    sie schlägt für dich.

    John Donne (englischer Dichter, 1572–1631)


    John Donne erinnert uns daran, dass Individualität ohne Verbundenheit leer bleibt. Sein Gedicht ist kein moralisches Mahnwort, sondern ein metaphysischer Gedanke: Wir existieren nur im Mitsein. Jeder Verlust – ob fern oder nah – betrifft das Ganze. Diese Einsicht ist älter als Europa und zugleich seine moralische Voraussetzung.

  • Das Dilemma des Heinz – und die Frage nach dem Leben

    Von Harald R. Preyer

    Eine Frau liegt im Sterben. Ein Mann will sie retten. Ein Apotheker verlangt den Preis des Lebens. Und die Moral? Sie steht ratlos daneben. Und wenn es im Heinz-Dilemma gar nicht um Ethik ginge?


    Der Psychologe Lawrence Kohlberg entwarf in den fünfziger Jahren eine Versuchsanordnung, die bis heute in Ethikseminaren zitiert wird: das Heinz-Dilemma.
    Eine Frau leidet an einer tödlichen Krankheit. Es gibt ein Medikament, das helfen könnte, doch der Apotheker verlangt das Zehnfache seiner Kosten. Der Ehemann Heinz bittet, verhandelt, fleht – vergeblich. Schließlich überlegt er, ob er einbrechen und das Mittel stehlen soll.

    Soll er?

    Kohlberg wollte mit dieser Frage nicht Moral lehren, sondern Moral messen. Entscheidend war nicht, was jemand antwortet, sondern warum.
    Wer sagt: „Er darf nicht stehlen, sonst kommt er ins Gefängnis“, denkt anders als jemand, der meint: „Ein Menschenleben zählt mehr als Eigentum.“ Moral, so Kohlberg, entwickelt sich in Stufen – von der Furcht vor Strafe bis zur Einsicht in universelle Werte.


    Wenn das Medikament nicht heilt

    Doch in dieser berühmten Versuchsanordnung fehlt eine entscheidende Unbekannte:
    Was, wenn das Medikament gar nicht hilft?
    Wenn es nur das Leiden verlängert – oder das Sterben?

    Dann verschiebt sich der moralische Brennpunkt.
    Dann geht es nicht mehr darum, ob Heinz das Richtige tut, sondern was „richtig“ überhaupt heißt.

    Ist Leben immer der höchste Wert? Oder wird es erst durch Sinn und Liebe heilig?

    In solchen Momenten reicht die Vernunft nicht mehr.
    Sie macht Platz für das Ringen des Herzens, das nicht loslassen kann – selbst wenn Loslassen der letzte Liebesdienst wäre.


    Zwischen Gesetz und Gnade

    Vielleicht liegt Heinz’ wahres Dilemma gar nicht im Gesetz, sondern im Glauben.
    Nicht, ob er einbrechen darf, sondern ob er glaubt, das Leben seiner Frau liege in seinen Händen.
    Und vielleicht liegt das Unrecht nicht beim Apotheker, sondern in der Logik, mit der wir Leben bemessen – als wäre es handelbar, verlängerbar, verfügbar.

    Was ist der Wert eines Menschenlebens, wenn es zugleich unbezahlbar und unhaltbar ist?


    In Gottes Zeit

    Am Ende werden wir alle vorausgehen.
    Für manche von uns leben unsere Seelen weiter.
    Und wir werden uns wieder umarmen – in Gottes Zeit.

    Dieses Vertrauen ist Gnade und verwandelt das Dilemma.
    Nicht zu einer Lösung, sondern zu einem Trost.
    Denn wenn Heilung nicht mehr im Diesseits liegt, wird das Stehlen sinnlos – und die Liebe heilig.

    Heinz bleibt Mensch – zwischen Hoffnung und Hingabe.
    Und Gott bleibt Gott – jenseits aller Rechnungen.


    Über den Autor:
    Harald R. Preyer ist Coach, geistlicher Begleiter und Trauerredner in Wien. Er begleitet Menschen an Lebenswenden .